Spielzeugfreie Zeit

Die Kinder in der heutigen Zeit sind verschiedensten Situationen ausgesetzt, die aufgrund von gesellschaftlichen und wirtschaftlich/industriellen Veränderungen eine gesunde frühkindliche Entwicklung erschweren. Aufgrund von erhöhtem Konsum elektronischer Medien, sowie einer Überflutung mit industriell angefertigten Spielzeugen aller Art sind die Kinder einer Art von Reizüberflutung ausgesetzt, die das kindliche Gehirn oft nicht angemessen verarbeiten kann. In Verbindung mit geringer Bewegung können diese Gegebenheiten dazu führen, dass sich viele Kinder im späteren Jugend- und Erwachsenenalter nicht selbstständig beschäftigen bzw. auf bestimmte Dinge fokussieren können.

Dieser Entwicklung wollen wir entgegen wirken, indem wir einmal im Jahr in einem Zeitraum von ca. 6-8 Wochen den Kindern die Möglichkeit geben, sich auf ihre ursprünglichen Sinne zu berufen und sich ihrer eigenen Kreativität und Fantasie zu bedienen, indem wir das industriell vorgefertigte Spielzeug (wie z.B. Gesellschaftsspiele, Bausteine, Autos, Puppen, Puzzles etc.)  gemeinsam mit den Kindern aus der Kita entfernen.

Stattdessen stehen den Kindern Naturmaterialien (wie z.B. Holz, Steine, Sand, Wasser u.ä.), und Alltagsgegenstände (wie z.B. Decken, Matten, Stühle, Tische, u.ä.) zur freien Verfügung. Zusätzlich können die Kinder Bastelmaterialien (wie Schere, Klebstoff etc.) von den Bildungsbegleitern erfragen.

Das Projekt spielzeugfreie Zeit soll sich keinesfalls gegen Spielzeug richten, denn dieses ist für die Entwicklung und Kreativität der Kinder enorm wichtig und gehört zu deren Lebenswelt dazu. Es richtet sich lediglich gegen die Überhäufung von vorgefertigtem Spielzeug, welches Kindern zu wenig Gelegenheit gibt ihre eigenen Ideen und Fantasien zu entwickeln.
Den Kindern wird keineswegs das Spiel genommen, es wird vielmehr vertieft und verändert und die Inhalte  werden neu erlebt. Die Spielfähigkeit ist eine Grundvoraussetzung für seelisches Wohlbefinden und für das Lernen. Vielfältige Spielerfahrungen sind ein Schatz des Kindes, aus welchem es lebenslang schöpfen kann.
Ziel der spielzeugfreien Zeit soll sein, die individuelle Fantasie und Kreativität der Kinder zu entfalten und ihnen die Möglichkeit zu geben, ihre Umwelt frei zu entdecken und zu erforschen. Die Kinder sollen ihre Aufmerksamkeit auf sich selbst, ihre Mitmenschen und die Natur richten. Die spielzeugfreie Zeit fordert Kinder in Bereichen heraus, die im normalen Alltag zu wenig Beachtung finden und gibt den Kindern neue Anreize zur individuellen Entwicklung.
 

Ablauf/Durchführung des Projekts


1. Phase
Die Kinder werden auf die kommende Zeit vorbereitet. Das Spielzeug wird gemeinsam eingepackt und in den Keller gebracht.

 

2. Phase

  •     Naturmaterialien und Alltagsgegenstände stehen den Kindern zur freien Verfügung
  •     Bastelmaterialien werden auf Nachfrage der Kinder herausgegeben
  •     Gemeinsame Regeln werden zusammen erarbeitet und immer wiederholt

 

3. Phase

  •     Das Spielzeug wird mit den Kindern gemeinsam aus dem Keller geholt
  •     Wenn das Spielzeug zurückkommt, wird es nach und nach wieder in die Räume aufgenommen.

 

Die Kinder entscheiden selbst, was sie wann  brauchen. Oft dauert es zwei Monate, bis alle Spielzeuge wieder benutzt werden.


Einblicke:

  •    Ältere Kinder erinnern sich und setzen sofort neue Ideen, ob handwerkliche oder kreative, um. Sie organisieren sich Pappe, Papier, Werkzeug, Nägel etc. Wichtig: Die Kinder lösen das Beschaffungsproblem selbst, denken nach, woher sie was bekommen können; sprechen Erwachsene oder Kinder, die ihnen behilflich sein könnten, selbst an!!
  •    Andere beobachten erst zögerlich und unentschlossen. Je nach Zusammensetzung der Kindergruppe verlaufen die Inhalte der Projekte sehr unterschiedlich. In manchen Jahren stehen handwerkliche, kreative Interessen im Vordergrund, in anderen Jahren finden die Kinder Rollenspiele oder das Experimentieren interessanter.
  •    Jedoch in allen Projekten entwickeln sich schon nach kurzer Zeit sprachliche Kompetenzen, die Suche nach eigenen Lösungswegen und soziale Beziehungen, vor allem Verhandlungsgeschick und die Achtung vor den Leistungen anderer viel stärker als sonst.
  •    Die Kinder testen Reaktionen anderer. Dabei gehen sie mitunter über die sonst üblichen Grenzen hinaus. Dieses, wenn auch im geschützten Rahmen, auszuhalten, stellt Kinder wie Bildungsbegleiter auf die Probe und gibt ihnen gleichzeitig die Möglichkeit, sich frei zu entfalten und zu neuen Einsichten und Einstellungen zu gelangen.
  •    Während dieses Projektes erfolgt in umfassender Weise SELBSTBILDUNG.
  •    Die Aufgabe der Bildungsbegleiter liegt in der genauen Beobachtung und unterstützen der Kinder beim finden der Problemlösungen.
  •    Das Projekt ist eine Chance, Basiskompetenzen sehr intensiv zu entwickeln. Sie dienen der seelischen Grundlage einer gesunden und starken Persönlichkeit.

 

Ziele und Ergebnisse

  •     Entwicklung einer eigenen Persönlichkeit: Durch das Fehlen der Spielsachen, müssen sich die Kinder sehr intensiv und ausdauernd miteinander  und mit sich selbst auseinandersetzen und beschäftigen. Dies formt die eigene Persönlichkeit in Bereichen wie Kreativität und Selbstwahrnehmung besonders von Gefühlen, Konflikten, Sprechverhalten und kognitiven Fähigkeiten.

 

  •     Suchtprävention: Aufgrund von Langeweile und Frustgefühlen sind die Kinder gezwungen eigene Lösungsstrategien zur Verbesserung ihrer Situation zu entwickeln. Sie lernen sich Hilfe zu suchen und zu bekommen, sei es durch die Bildungsbegleiter oder Mitmenschen. Dies führt zu einer verbesserten Problem- und Zeitbewältigung in Vorbereitung auf das Jugend- und Erwachsenenalter. Können sich die Kinder später selbst mit Problemen auseinander setzen und haben ein gestärktes Selbstbewusstsein, ist die Gefahr einer möglichen Sucht zu verfallen (durch Studien belegt) geringer.

 

Verbesserung von Fähigkeiten:

  •     Beziehungsfähigkeit und Sozialverhalten:

die Kinder sind gezwungen sich miteinander auseinander zu setzen, um ihre Spielideen besser umsetzen zu können. Die Fähigkeit wird verbessert, Beziehungen aufzubauen, sich Hilfe bei anderen zu holen, gemeinsame Lösungen zu finden.

  •     Selbstständigkeit: die Kinder müssen selbst Ideen entwickeln, um sich zu beschäftigen. Erfolge und Niederlagen machen die Wirksamkeit des eigenen Handels sichtbar.

 

  •     Selbstvertrauen: durch die Verwirklichung neuer Ideen können zahlreiche Erfolge sichtbar gemacht werden. Die Fähigkeit, eigene Bedürfnisse wahrzunehmen, eigene Stärken und Schwächen anzunehmen und Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen.

 

  •     Körpererfahrung, Sinneswahrnehmung, Naturerleben: Kindheit findet heute immer weniger im Freien und dafür immer mehr in geschlossenen Räumen statt. Dies hat Auswirkungen auf die Gesundheit, das Verhalten und die Wahrnehmung von Natur und Umwelt.


Mit allen Sinnen nehmen die Kinder die Natur wahr und erfahren sich als Teil des Ganzen. Das direkte Erleben, z.B. der Wechsel der Jahreszeiten und die Veränderungen in der Natur werden zur eigenen Erfahrung, zu eigenem Wissen und somit zum Selbstverständnis. Sie gewinnen grundsätzliche Einsichten in Sinn- und Sachzusammenhänge der Natur.

  •     Sprachentwicklung und Kommunikationsfähigkeit:

Die Fähigkeit, sich verständlich zu machen und andere zu verstehen.

  •     Konfliktfähigkeit:

Die Fähigkeit, sich selbst eigene Aufgaben zu stellen, Probleme wahrzunehmen und selbst Lösungen zu entwickeln. Die Fähigkeit, sich mit sich selbst und anderen auseinander zu setzen.

Fragen, die sich Eltern häufig stellen

  •     Müssen die Eltern zuhause auch das Spielzeug wegräumen?


Nein. Zuhause kann alles bleiben wie bisher. Sollten die Kinder den Wunsch äußern, den aktuellen Kita-Zustand auch zuhause herzustellen, sollte ihnen allerdings die Möglichkeit dazu gegeben werden.

Wir bitten Sie also als Eltern, unsere Arbeit somit zu unterstützen.

  •    Haben die Kinder gar kein Spielzeug mehr zur Verfügung?


Vorgefertigtes Industriespielzeug: Nein.

Materialien und Alltagsgegenstände, die zum Spielzeug umfunktioniert werden können: Ja

  •    Können die Kinder während der spielzeugfreien Zeit Spielzeug von zu Hause mit in die Kita bringen?


Nein. Die Kinder können aber Materialien und Werkzeug mitbringen. Auch diese Initiative sollte von den Kindern und nicht den Erwachsenen ausgehen.

  •     Gibt es während dem Projekt keine Vorgaben, Grenzen und Regeln?


Regeln und Grenzen sind zum Zusammenleben unerlässlich. Auch in der spielzeugfreien Zeit können sie nicht wegfallen. Wichtig ist es aber, dass auch den Kindern die Gelegenheit gegeben wird, aus Situationen heraus Regeln und Grenzen selbst zu setzen, da sie dann deren Sinn besser erfassen. Selbstverständlich ist aber auch der Bildungsbegleiter - wie bisher - weiterhin verantwortlich in der Gruppe.

  •     Was ist die genaue Aufgabe der Bildungsbegleiter in dem Zeitraum, wenn die Kinder sich selbst beschäftigen sollen?


Auch die Mitarbeiter verändern ihre Rolle, den aktiveren Part geben sie an die Kinder ab. Ideen müssen die Kinder selbst entwickeln, die Erwachsenen sind unterstützend und ermutigend zur Seite. Wir geben Impulse, beobachten, spielen mit, beaufsichtigen, moderieren Konflikte und dokumentieren.

Wir trauen den Kindern zu, den Tag selbst in die Hand zu nehmen, stellen jedoch natürlich auch mit den Kindern verbindliche Regeln auf.

  •     Was soll ich machen, wenn mein Kind sich langweilt oder nicht mehr in die Kita möchte?


Langeweile auch einmal auszuhalten, ist durchaus im Sinne des Projektes. Kinder sollen ja lernen, aus der Unzufriedenheit mit einer Situation heraus, Lösungen selbständig zu entwickeln und nicht durch Ersatzangebote der Situation auszuweichen. Dies können Kinder jedoch nicht lernen, wenn Erwachsene bei jedem Anzeichen von Langeweile bei Kindern sofort mit Unterhaltungs- oder Spielangeboten eingreifen. Auch im späteren Leben ist nicht immer jemand da, der uns sofort Frustrationen aus dem Wege räumt.

Lange-Weile, Nichts-Tun, Nicht-Funktionieren sind notwendige Pausen, nach denen wir Erwachsene uns oft genug sehnen. Wir sollten unseren Kindern die Gelegenheit geben, diese lebenswichtigen Bedürfnisse zu erfahren.

Dass Kinder einmal nicht in den Kindergarten gehen wollen, kommt nach unserer Erfahrung in der spielzeugfreien Zeit nicht häufiger vor als im normalen Kindergartenalltag auch. Sollte dies jedoch der Fall sein, ist es immer wichtig, dass Sie mit dem Kind und den Bildungsbegleitern zusammen nach den Ursachen suchen, um gemeinsam eine Lösung zu finden.


Mögliche Verhaltensweisen der Kinder während der Zeit

Diese Veränderungen kann man phasenweise, auch zu Hause, beobachten:

  •     Langeweile  -  neue Ideen zu entwickeln braucht Zeit, man wird erst dann selbst tätig und kreativ, wenn die Notwendigkeit dazu besteht
  •     Höhere Lautstärke – es wird in der Gruppe viel mehr gesprochen, natürlich wollen sich die Kinder übertönen
  •    Eventuell aggressiveres Verhalten  – ist zunächst nichts Bedrohliches, auch damit muss der Umgang erlebt und erlernt werden, Unterdrücken von Gefühlen ist kein sinnvolles Vorgehen. Aggression wird im Alltag meist mit Ersatzhilfsmitteln verbannt. Ziel ist es, eigene Gefühle wahrzunehmen und selbst regulieren zu können (BEP 5.2 Selbstregulation). Dazu bedarf es der Unterstützung durch begleitende Erwachsene, welche Problemlösungsprozesse kommentieren.
  •     Regeln werden gefordert – es wird vermehrt ausgetestet, was gestattet und was verboten ist. Die Kinder stellen selbst auch Regeln auf, damit das tägliche Miteinander funktioniert.
  •     Müdigkeit – besonders am Nachmittag zu Hause sind die Kinder früher müde, als sonst. Das ist ganz normal, der Tag ist viel anstrengender geworden.

Die Kinder werden mehr gefordert, das strengt an. Dies kann zu vermehrten sozialen Auseinandersetzungen kommen. Außerdem kann es vorkommen, dass sie sich auch wesentlich schmutziger machen als sonst, da sehr viel im Freien gespielt und ausprobiert wird. Insgesamt können wir aus Erfahrung sagen, dass es den Kindern nach kurzer Zeit der Neuorientierung immer sehr viel Spaß macht.